Kardinal Müller: Kirchenkrise ist „von Menschen gemacht“, und Verweltlichung keine Lösung

Kardinal Müller: Kirchenkrise ist „von Menschen gemacht“, und Verweltlichung keine Lösung

„Das Gift, das die Kirche lähmt“

von Gerhard Card. Müller

Wenn wir uns am ersten Tag des Neuen Jahres begegnen, wünschen wir uns wechselseitig ein Glückliches Neues Jahr. Als Christen sehen wir das in dem tieferen Zusammenhang, dass wir alle Gottes geliebte Söhne und Töchter sind.

Als Katholiken verbinden wir unser Wohlwollen für die Mitmenschen mit der wunderbaren Erfahrung, dass alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige im Licht Gottes einen Sinn hat. Wenn in der hl. Messe das Opfer Christi für das Heil der Welt gegenwärtig wird, danken wir Gott dafür.

Wir danken Gott, dass er die Welt erschaffen hat und uns alles gibt, was wir zum Leben brauchen. Wir danken ihm, dass er um unseres Heiles willen Mensch geworden ist und dass er uns den Heiligen Geist geschenkt hat. Wir danken ihm für die Kirche, die im Glauben unsere Mutter geworden ist. Sie ist der Leib Christi, in den wir durch die Taufe und das Bekenntnis des katholischen Glaubens eingegliedert worden sind. Wir danken ihm für die Familie, in der wir heranwachsen durften und für unsere Freunde, die uns im Leben treue Begleiter sind. Und wenn Gott uns zur Lebensform der Ehe berufen hat, danken wir für unseren Ehemann beziehungsweise unsere Ehefrau sowie die Kinder, die wir lieben, weil sie Gottes Geschenk an ihre Eltern sind.

Wir Christen haben ein musikalisches Lebensgefühl. In unserem Herzen singt und klingt das Danklied der Erlösten.

Unser Leben ist ein Opfer für Gott nach dem Vorbild Jesu, der auf dem Altar des Kreuzes sein Leben hingab zur Vergebung der Sünden. Aber es ist derselbe Christus, der uns durch seine Auferstehung das Tor zum ewigen Leben geöffnet hat. Das ist unser Glaube.

Doch mit tiefer Besorgnis fragen sich viele Christen, ob angesichts der Krise der christlich geprägten Gesellschaften des Westens und sogar der Skandale in der Kirche, das Christentum überhaupt noch in unsere Zeit passt. Wankt der Fels, auf den Jesus seine Kirche gebaut hat?

Die von Menschen gemachte Krise ist in der Kirche entstanden, weil wir uns bequem dem Zeitgeist eines Lebens ohne Gott anpassten. Deshalb ist soviel Unerlöstheit in unseren verwundeten Herzen, die nach Ersatzbefriedigungen verlangen!

Doch wer glaubt, braucht keine Ideologie. Wer hofft, greift nicht zu Betäubungsmitteln. Wer liebt, sucht nicht die Lust der Welt, die mit ihr vergeht. Wer Gott und den Nächsten liebt, findet sein Glück im Opfer der Selbsthingabe. Er wird froh und frei, wenn er im Geist der Liebe die Lebensform annimmt, zu der Gott ihn ganz persönlich berufen hat: in der sakramentalen Ehe, im zölibatären Priestertum oder im gottgeweihten Leben nach den drei evangelischen Räten der Armut, des Gehorsams und der ehelosen Keuschheit um des Himmelreiches willen.

Ich möchte erinnern an eine berühmte Weihnachtspredigt des hl. Papstes Leo des Großen, mitten im Chaos der Völkerwanderung und des Zusammenbruchs aller Ordnungen. Er spricht jeden Katholiken persönlich an, und seine Worte möchte ich jedem Katholiken zurufen in der gegenwärtigen Krise der Kirche:

„Christ, erkenne deine Würde! Kehre nicht, nachdem du der göttlichen Natur teilhaftig geworden bist, durch verwerfliche Sitten zur alten Erniedrigung zurück. Denke daran, welchen Hauptes und welchen Leibes Glied du bist! Vergegenwärtige dir, dass du der Macht der Finsternis entrissen und in Gottes lichtvolles Reich versetzt worden bist! Durch das Sakrament der Taufe wurdest du zu einem Tempel des Heiligen Geistes. Vertreibe nicht durch schlechte Handlungen einen so hohen Gast aus deinem Herzen!“ (Sermo 21,3).

Dem tödlichen Gift der Schlange entkomme ich nicht, wenn ich Freundschaft mit ihr schließe, sondern wenn ich mich klug von ihr fernhalte oder für alle Fälle immer das Gegengift griffbereit habe.

Das Gift, das die Kirche lähmt, ist die falsche Meinung, man müsse sie dem Zeitgeist anpassen, die Gebote Gottes relativieren und die Glaubenslehre umdeuten.

Man will aus der „Kirche des lebendigen Gottes, die Säule und Grundfeste der Wahrheit“ (1 Tim 3, 15) ist, eine bequeme Zivilreligion machen.

Die Zustimmung einer nachchristlichen Gesellschaft und der antichristlichen Meinungsmacher in den Mainstream-Medien zu dieser Selbstsäkularisierung der Kirche verwechseln selbst höhere kirchliche Autoritäten mit der Zustimmung zum Glauben Jesus den Christus. Nicht wer den Glauben für eine Agenda vom Klimawandel bis zur Geburtenkontrolle einspannen will, kommt wieder nahe an die Kirche heran, sondern nur wer mit Petrus auf Jesus schaut und bekennt: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (Mt 16,18).

Das Gegengift gegen die Verweltlichung der Kirche ist die „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,14) und „das Leben aus dem Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat.“ (Gal 2,20).

Das Zauberwort des Versuchers ist die notwendige Modernisierung, so dass jeder der dieser Ideologie entgegentritt als ihr Feind bekämpft und des Traditionalismus bezichtigt wird. Ich möchte nur ein Beispiel nennen für die Perversion der Logik: Man diffamiert den Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum Tod als eine konservative und rechte Position, während man die Tötung eines unschuldigen Kindes im Mutterleib für ein Menschenrecht reklamiert und sich deswegen für fortschrittlich hält. In der Politik und den Medien geht es um die Macht über die Köpfe und das Geld in unseren Taschen.

Darum muss man die Menschen mit den Kampfparolen von konservativ oder zeitgemäß konditionieren. Im Glauben an Gott geht es hingegen um den Gegensatz von wahr und falsch und in der Ethik geht es um die Unterscheidung von gut und böse.

Kardinal Martini hatte gegen die katholische Kirche kurz vor seinem Tod den zweideutigen Vorwurf erhoben, sie hinke 200 Jahre hinter der Zeit her. Auf dieses Diktum berufen sich die Atheisten rechthaberisch und schadenfroh. Die progressiven Katholiken spielen hingegen die Musterschüler der Aufklärung und versprechen die versäumten Lektionen der atheistischen Religionskritik schnell nachzuholen.

War mit diesem Slogan gemeint, dass die Kirche sich die Ablehnung der geschichtlichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu eigen machen müsse? Bleibt die Kirche ihrem Grund und Gründer treu, wenn sie zu einer Humanitätsreligion mutiert?

Die friedlichen Agnostiker von heute, die dem einfachen Volk die Illusion einer Religion gönnen, würden sich gerne des sinnstiftenden Potentials der Kirche bedienen. Denn wenn sie den geoffenbarten Glauben auch nicht für wahr halten, möchten sie ihn dennoch als Baumaterial für eine Welteinheitsreligion verwenden.

Der Preis für den Eintritt der Kirche in die Internationale der Weltreligionen sei lediglich der Verzicht auf ihren Wahrheitsanspruch. Der Relativismus lehnt sowieso die Erkennbarkeit der Wahrheit ab und präsentiert sich als Garanten des Friedens aller Religionen und Weltanschauungen.

Und in der Tat: Ein Katholizismus ohne Dogmen und Sakramente und ohne das unfehlbare Lehramt ist die Fata Morgana, nach der nicht wenige lechzen.

Wenn Gott aber in der „Fülle der Zeit“ seinen Sohn gesandt hat, der von einer Frau geboren wurde (Gal 4, 4), und den die Hirten von Betlehem finden als „das Kind, das in der Krippe lag“ (Lk 2, 16), dann ist jede Zeit unmittelbar zu Gott. Jesus kann nicht überholt werden durch den Wechsel der Zeiten, weil Gottes Ewigkeit alle Epochen der Geschichte und die Biographie jedes einzelnen Menschen umgreift.

In dem konkreten Menschen Jesus von Nazaret ist die universale Wahrheit Gottes konkret jetzt und hier gegenwärtig -in Raum und Zeit der Geschichte. Jesus Christus ist nicht die Veranschaulichung einer überzeitlichen Wahrheit, sondern „Weg und Wahrheit und Leben“ in Person (Joh 14, 56).

Die Kirche geht mit der Zeit in ihren gesellschaftlichen Veränderungen. Und die Theologie formuliert im Dialog mit dem modernen Weltbild der Wissenschaften und Technik die Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft. Sie stellt heraus, dass der Glaube eine Erkenntnis der Wahrheit Gottes ist und ein Licht, in dem wir uns selbst und die Welt in ihrem innersten Ursprung und Ziel verstehen.

Diese Erkenntnis verdankt sich aber nur dem Wort Gottes, das Fleisch geworden ist, und das unter uns gewohnt hat (Joh 1, 14). Doch die Wahrheit des geoffenbarten Glaubens kann weder durch innerweltliche Vernunftgründe bewiesen noch widerlegt werden.

Die Kirche weiß, dass wir ohne das Evangelium Christi verloren sind. Maria hat in ihrem Schoss Gott selbst empfangen, der aus ihr geboren werden wollte: Jesus Christus – wahrer Gott und wahrer Mensch, der einzige Retter der ganzen Welt.

Und so beten wir am Hochfest der Gottesmutter Maria: Barmherziger Gott, lass uns auch im neuen Jahr immer und überall die Fürbitte der gnadenvollen Mutter erfahren, die uns den Urheber des Lebens geboren hat, Jesus Christus, deinen Sohn unseren Herrn und Gott, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen.

 

Foto: EWTN.TV / Paul Badde

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